DEMOKRATIE – wie bewährt sich das Ideal in der Praxis?

 

Ausgangslage

 

Das bis zum Frühjahr 2023 tätige Koordinationsteam von RotGrünPlus (Rosa Hess, Beatrice Rinderknecht und Jakob Weiss) verspürte im Laufe der Zeit das Bedürfnis, nicht nur Geschäfte der Küsnachter Tagespolitik zu verfolgen und zu diskutieren, die einen kurzen Moment lang die Bevölkerung bewegen. Wir wollten parallel dazu auch ein Hintergrundthema etwas dauerhafter und gründlicher anschauen – möglichst unbeeinflusst von Parteipolitik. Denn unsere Orientierung in Bezug auf die "kleinen" Alltagsprobleme ergibt sich ja meist aus persönlichen Erfahrungen und der dabei gefundenen Haltung gegenüber "grossen" bzw. übergeordneten Fragen.

 

Unser letztes Hintergrundthema hiess "Landwirtschaft". Es hat eine erlebbare lokale Dimension und eine schlechter fassbare globale Ausdehnung, die im politischen und im wirtschaftlichen Untergrund aber eng miteinander verbunden sind. Die fundamentale Bedeutung der Landwirtschaft, sowohl für unsere Ernährung wie auch das Klima, wird heute weitgehend verkannt und fast nur aufgrund wirtschaftlicher Machtverhältnisse diskutiert. In einer Gemeinde wie Küsnacht kommen die damit verbundenen Fragen gar nie auf den politischen Tisch. Ein klein wenig konnte RGP mit Vorträgen, Hofbesuchen und Podiumsgesprächen die Distanz zwischen Bevölkerung und einheimischen Landwirten verringern.

 

Aktuelle Situation in Küsnacht

 

Was die gemeindepolitischen Vorgänge der letzten Jahre angeht, haben diese zunehmend das Verlangen geweckt, vertieft über "Demokratie" nachzudenken. Was bedeuten die laufenden Organisationsprozesse zum Zwecke der "Verschlankung", "Effizienzsteigerung" und "Professionalisierung"? Gegenüber welcher "Konkurrenz" muss sich eine Gemeinde behaupten? Wo werden die dafür massgebenden Entscheide gefällt? Wie kann ich mitbestimmen? Warum haben kleine Parteien und selbst die schweizweit zweitgrösste Partei in Küsnacht keine Chance, im Gemeinderat vertreten zu sein? Gibt es in unserer Gemeinde eine breit abgestützte und offene Diskussionskultur? Solche Fragen verdienen bestimmt eine Klärung nicht nur im privaten Kreis, sondern in der Öffentlichkeit.

 

Nächstes "Jahresthema" für RotGrünPlus

 

Neben "Demokratie" sind weitere Vorschläge für einen thematischen Schwerpunkt gemacht worden: "Frieden" ist ein wieder sehr offensichtliches Problem auch in Europa; "Bildung" ein Dauerrenner; "Transition" das Gebot der Stunde (der englische Begriff verstanden als Übergang zu neuen gesellschaftlichen Lebensformen angesichts der Klimaveränderung); "Geld" ein nicht übersehbares aber verdrängtes Thema; und es gäbe noch mehr von diesem Kaliber. Sie alle haben eine Schwäche: wir sind rasch überfordert. Verlieren den Überblick. Haben nicht die Kenntnisse, um sachhaltig darüber zu befinden. Und dennoch dürfen wir uns nicht von ihnen abwenden. Zwischen Überforderung und Desinteresse muss es einen Weg geben.

 

Eine Mehrheit hat sich am RGP-Treffen vom März für "Demokratie" entschieden. Vorteil dieses Stichworts ist es, dass ihm eigentlich die anderen erwähnten Themen untergeordnet werden können. Oder auch übergeordnet, es hängt vom Blickwinkel ab. So oder so lassen sich unter dem Titel "Demokratie" grössere wie auch kleinere Fragen angehen. Wir können uns am scheinbar bekannten Begriff schrittweise weiterbilden, Selbstverständliches hinterfragen und Nichtgewusstes aufdecken, neue Sichten auf Fragen der Zeit gewinnen. Und je nach Bedürfnis der Teilnehmenden eine Vertiefung in eines der anderen wichtigen Themen vornehmen.

 

Zum Zustand der Demokratie

 

Demokratie und Schweiz – die zwei Begriffe leben eine historische Symbiose. Fast sieht es manchmal so aus, als hätten hier geborene Menschen demokratisches Verständnis gleich mit der Muttermilch eingesogen. Oder denken das nur ältere Leute, denen der Zweite Weltkrieg noch ein erlebter Zeitraum ist? Was aber denken dann die Jüngeren, die sozusagen ab Geburt global-vernetzt sind? Spielt für sie die Staatsform, angesichts von Energie- und Klimakrise, von finanzieller Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeit, überhaupt eine Rolle? Und: Bestimme ich, als Individuum, den Lauf der Dinge in meinem Land mit?

 

Weltweit findet kein Siegeszug der für uns so selbstverständlichen Demokratie und der Menschenrechte statt. Auf kommunaler Ebene ist das Interesse an demokratischen Auseinandersetzungen mager. "Mitbestimmung" hat sich ins Internet und seine verschiedenen medialen Plattformen verschoben. Eine verbindliche gesellschaftliche "Weltanschauung" fehlt heute. Dafür gelten persönliche Deutungen der individuell wahrgenommenen Wirklichkeit immer mehr.

 

Wie auch immer man der "Demokratie" gegenübersteht, es lohnt sich, diesen Begriff genauer anzuschauen und zu diskutieren. Denn er spielt im täglichen politischen Umgang miteinander doch eine zentrale Rolle. Und diese Rolle darf sich nicht hinter verschiedenen Kostümen und auf verschiedenen Bühnen dem Blick und Verständnis des Publikums entziehen, Demokratie sollte als geklärte und fassbare Figur auftreten.

 

Grundlagen zum tieferen Verständnis

 

Einige persönlich ausgewählte Hinweise auf Bücher können vorläufig und in groben Zügen andeuten, wohin die Reise ins Land der Demokratie gehen kann.

 

Der deutsche Soziologe Stephan Lessenich hat ein unscheinbares Reclam-Bändchen mit dem Titel "Grenzen der Demokratie" geschrieben. Darin zeigt er, wie wir uns als TeilnehmerInnen am gesellschaftlichen Leben in "Berechtigungsräumen" bewegen. Wir sind nicht überall zugelassen. Vielmehr haben diese sozialen Räume selektive Eintrittspforten: je nach Bildung oder finanziellem Potenzial sind es sehr verschiedene Orte, die zum Teil kaum miteinander verbunden sind. Insbesondere nicht, was die vertikale Dimension des gesellschaftlichen Erfolgs, des geltenden Prestiges angeht. Was uns aber trotz Schichtung alle verbindet: Jede und jeder von uns sucht ihren und seinen Platz im gesellschaftlichen Koordinatensystem – und ist zufrieden dabei. Oder gar nicht zufrieden.

 

Einen sich heute als gravierend erweisenden Mangel hat die uns so vertraute Form des demokratischen Zusammenlebens: sie ist blind gegenüber der Umweltausbeutung. Die sogenannt natürlichen Ressourcen, diese kaum beachtete "vierte Dimension" unserer Gesellschaft (auch schlicht Natur genannt), bilden seit jeher das selbstverständliche materielle Potenzial, von dem alle Demokratien und auch die anderen Staatsformen zehren. War es z.B. vor 250 Jahren die Verdrängung der Indianer in Nordamerika zwecks Landgewinn, ist es heute die weltweite Ausbeutung der Bodenschätze für den Erhalt des Wohlstands – mit entsprechend unkontrollierter Abfallproduktion und bleibendem Wohlstandsgefälle. Wenn wir diesen kaum hinterfragten Anspruch des demokratischen Selbstverständnisses auf Naturausnützung nicht klarer erkennen und korrigieren können, bleiben Klimadiskussionen praktisch ergebnislos.

 

Der amerikanische Moralphilosoph Michael Sandel zeigt in seinem Buch "Vom Ende des Gemeinwohls", wie man die gesellschaftliche Ungleichheit und die zunehmende Auflehnung der sich benachteiligt Fühlenden verstehen kann. Wo und wie schlägt sich die heutige "Leistungsgesellschaft" selber? Bildung als Bewertungsmassstab und Flaschenhals zur begehrten Sphäre der obersten Wenigen setzt zum Teil völlig falsche Anreize. Statt Solidarität und Wertschätzung unter allen zu fördern, teilt sich eine "meritokratische" Gesellschaft in GewinnerInnen und VerliererInnen auf. Oder auf zwei Fragen reduziert: Wer definiert eigentlich, was Erfolg ist? Und stimmt es, dass alle, solange sie nur hart genug arbeiten, diesen Erfolg auch haben können?

 

Als Vorbild aller Demokratien – womit immer der Begriff der Freiheit auf die eine oder andere Weise verknüpft ist – gelten gemeinhin die Alten Griechen. Gerade was die Freiheit angeht, hat sich die Philosophin Hanna Arendt stark mit dem Bereich des Politischen und dessen zweitausendjähriger Entwicklung auseinandergesetzt. Der koreanisch-deutsche Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han deckt bei Arendt das zu kurz gekommene Verständnis für den gesellschaftlichen Bereich (unsere tägliche Existenzsicherung) auf, der eben nicht abgetrennt vom Politischen existiert. Han stellt Arendts "vita activa" in sehr bedenkenswerter Weise die "vita contemplativa" gegenüber. Das Nicht-tun als Wesenskern des Lebens wirkt heute als echte Provokation.

 

Ein engagierter Verfechter der Demokratie ist der über die Schweizergrenze hinaus bekannte Publizist Roger de Weck. Er hat seine reichen Erfahrungen mit demokratischen Abläufen und Ereignissen im lesenswerten Buch "Die Kraft der Demokratie" festgehalten, worin er sich den Angriffen durch reaktionäre Kräfte widersetzt. Der enge Bezug zur Schweiz, die zwischen Neutralitätsvorstellungen und internationalem Handel laviert, ist immer gegeben.

 

Schliesslich muss der Schweizer Germanist Peter von Matt erwähnt werden, der mit seinen luziden Aufsätzen und Büchern immer wieder unsere ureigenen demokratischen Gepflogenheiten, Mythen und konkreten Verhaltensweisen im Spiegel der Literatur beschrieben hat. Seine überraschenden Einblicke in das Wesen der Schweiz sind oft noch entlarvender und somit auch erhellender als jede Art von Theorie. Das eine schliesst ja das andere nicht aus, sondern ergänzt es.

 

Einladung zum Mitmachen

 

Es ist klar, dass die Koordinationsstelle von RGP eine solche Debatte, die ganz Küsnacht ergreifen sollte, nicht aus eigener Kraft bestreiten kann. Es braucht zuerst eine aus Interessierten zusammengesetzte Arbeitsgruppe, die ein Konzept erarbeitet. Daran anschliessend werden verschiedene Anlässe und Diskussionen zum Thema unter Beizug von Fachpersonen organisiert. Wir denken an Vorträge, geleitete Lesegruppen, Anlässe und Aktionen im Dorf – und anderes mehr. Hier ist vorerst der Aufruf damit verbunden: Wer interessiert sich für eine breitere Diskussion des Themas Demokratie? Und wer möchte sich in einer Arbeitsgruppe Demokratie betätigen?

 

Kontakt: Jakob Weiss (jw@goldnet.ch) oder am nächsten RGP-Treffen. Küsnacht, im Mai 2023