Die Pandemie ist ein Portal

„Die Pandemie ist ein Portal“ (Arundhati Roy)

Ja, diese Türe, die wir nicht mal kannten, ist vor unseren Augen einfach aufgegangen. Sie wurde von unsichtbarer Hand geöffnet und hat uns den Ausblick auf unsere Existenz als ein mit der ganzen Welt, aber nun stark mit unserer Umgebung verbundenes Lebewesen freigegeben. Die geöffnete Türe in unbekannte und noch weitgehend unerforschte Gebiete hat uns nicht nur neue Ausblicke, sondern auch Raum für Einblicke in uns selber, in unsere Familien, in unsere Nachbarschaft und das Funktionieren unseres Gemeinwesens und Staates ermöglicht. Zurzeit nehmen wir Gesundheit und Krankheit, Tod und Weiterleben besonders wahr. Wir selber und uns Nahestehende sind direkt davon betroffen. Weiter weg sind diejenigen, welche in viel weniger komfortablen und oft prekären Umständen leben und ebenso überleben wollen. In der nahen Welt versuchen wir, gemeinsam die Krise zu bewältigen und gestalten dafür die nötigen Handlungs- und Spielräume. Der Bund nimmt seine Verantwortung wahr, um unsere Gesundheit zu schützen und zu erhalten und verordnet auch die nötigen Einschränkungen. Ebenso tun es auch die anderen Menschen in ihren Ländern. In unserer nahen Küsnachter Welt machen wir neue Erfahrungen: der Himmel ist streifenlos blau, am Morgen hören wir vermehrt das Zwitschern der Vögel. Die atemlose Atmosphäre, das hektische Herumrennen und Davonfahren hat sich beruhigt, unser Drehen im Hamsterrad verlangsamt. Wir haben Zeit für uns und einander. Trotz verordneter Isolation finden wir über neue Wege zueinander. Die auf ihr Austauschjahr wartende Studentin versorgt ältere Menschen am Dorfrand; wir schwatzen von Balkonen und machen Musik vor der Garage; wir telefonieren, skypen und schreiben Briefe; wir demonstrieren online statt auf der Strasse; der Pingpongtisch der einen Familie steht jetzt auf der Quartierstrasse, damit ihn auch andere benützen können; wir kaufen mit dem Velo oder E-Bike ein und kommen so am Gemüsestand des lokalen Bauern vorbei; wir kochen selber und gehen sorgfältig mit Lebensmitteln um; wir sind achtsam, halten Abstand und nehmen dabei Rücksicht auf diejenigen, die wir sonst nicht beachten. Interessanterweise fällt es uns angesichts der neuen Priorität, die Gesundheit aller zu erhalten, gar nicht so schwer, auf vieles zu verzichten, was vorher zum Lebensstandard gehörte: Flugreisen, tägliche Pendelfahrten durch die halbe Schweiz, Ferien im Wellnesshotel – wir werden uns bewusst, wie viel Lebenszeit und auch Geld wir in Karriere, Statussymbole und Kompensation eines ständig auf noch mehr Leistung und Eingespanntsein getrimmten Alltags gesteckt haben. In diesem anderen Bewusstseinszustand stehen wir Zuhausegebliebenen vor einem noch grösseren Portal. Neben der Schönheit von Natur, Kunst und sozialen Errungenschaften sehen wir in eine Welt, die durch wahrscheinlich noch umfassendere, bereits folgenschwere und langfristig verheerende Krisen gebeutelt wird. Auch die Klimakrise ist eine Gesundheitskrise. Auch da sind wir miteinander auf Leben und Tod verbunden, auch wenn die einen vorläufig noch über mehr „Schutzmaterial“ zum Überleben verfügen als die anderen. Bei der Klimakrise gibt es – im Gegensatz zu Pandemien - keinen äusseren Feind, da sind wir Menschen uns selbst zu Feinden geworden. Die Schäden unseres masslosen und unvernünftigen Verhaltens bekommen zuerst diejenigen zu spüren, die sie nicht verursacht haben. Aber Hitze, Trockenheit, Waldbrände und Stürme machen an keinen Landesgrenzen halt. So gilt es, unser Wissen, unser Können und unser Handeln auf die ganze Welt auszudehnen.Wir müssen unser jetzt gelebtes lokales und nationales Zusammenstehen, unsere Rücksichtnahme, unser Schützenwollen globalisieren. Jedes Menschenleben verdient den gleichen Schutz. Wie wir gerade bei uns erleben, hilft auch bei dieser schon lange begonnenen, zuerst schleichenden, jetzt immer schneller fortschreitenden und vielleicht bedrohlichsten Krise für uns alle nur eines: solidarisches Handeln.

Beatrice Rinderknecht Bär, Mitglied Koordinationsstelle RotGrünPlus

Die Pandemie ist ein Portal, erschienen im Küsnachter am 07.05.2020

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